
Von Wolfgang Lehmacher und Mikael Lind
Die Virtual Watch Tower / VWT Initiative ist ein von Verladern getriebenes, terminalzentriertes Primärdaten-Austausch-Projekt, das von RISE (Schweden), A*STAR’s IHPC (Singapur), VTT (Finnland) und TalTech (Estland) geleitet wird. Ziel der Initiative ist es, die Fähigkeiten bestehender TMS-ähnlicher Lösungen in der Transportbranche zu verbessern, mit anfänglichem Fokus auf zwei zentrale Anwendungsfälle: verbesserte, primärdatenbasierte Disruptionsmanagementprozesse und die Berechnung von Transport-CO₂-Fußabdrücken im maritimen End-to-End-Containertransport. Die Initiative hat ein kollaboratives Ecosystem mit über 50 Akteuren (und wachsend) geschaffen, darunter Verlader, Spediteure, Transporteure, Technologieanbieter und Terminalbetreiber. Das Konsortium hat den weltweit ersten Prototypen einer föderierten Architektur für das Teilen von Primärdaten im globalen Transportwesen entwickelt, der auf Distributed-Ledger-Technologie basiert. Dieser Artikel umreißt und extrahiert die wichtigsten Erkenntnisse aus der Anwendung eines 10-Phasen-Rahmens für Ecosystem-Innovation.
10-Phasen-Übersicht des Innovationsprozesses im Ecosystem mit den Schlüsselerkenntnissen
- Ideengenerierung und Konzeption – Wo alles beginnt
Beschreibung: Die Initiative begann mit der Konzeption eines Ansatzes für das Teilen von Primärdaten, um Forschungs- und Lösungslücken in der branchenübergreifenden Zusammenarbeit zur Bewältigung globaler Lieferkettenstörungen und Berechnung von CO₂-Fußabdrücken zu schließen.
Beispiel: Die ersten Workshops der VWT-Community identifizierten den Mangel an Echtzeit-End-to-End-Transparenz für Verlader und Terminalbetreiber als zentrales, kostspieliges Problem. Daraus entstand die Vision föderierter Virtual Watch Towers (VWTs) für ganzheitliche Situationsübersicht.
Schlüsselerkenntnis: Frühe, offene Ideengenerierung, die sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Ecosystemmitglieder orientiert, ist entscheidend für Relevanz und Akzeptanz. Die Einbindung der Stakeholder von Anfang an bringt relevante Schmerzpunkte und Chancen ans Licht, die sonst ggf. übersehen würden, und legt so das Fundament für zukünftige solide Innovationsarbeit. - Initiierung durch ein anerkanntes Führungsteam
Beschreibung: Ein zentrales Führungsteam wurde gebildet, bestehend aus den staatlichen Forschungsinstituten RISE, A*STAR’s IHPC, später ergänzt durch VTT und TalTech. Diese Gruppe bot die notwendige Neutralität und Expertise, um die VWT-Initiative zu starten.
Beispiel: Die Partnerschaft zwischen europäischen und asiatischen Forschungsinstituten ermöglichte eine schnelle Einbindung von Akteuren im Co-opetition-Modus, sicherte Neutralität, globale Relevanz und ein breites Testfeld für Pilotprojekte.
Schlüsselerkenntnis: Die Bildung eines diversen, internationalen Konsortiums von Anfang an sichert Glaubwürdigkeit und beschleunigt die Ressourcenmobilisierung. Die Beteiligung führender Forschungsinstitute brachte nicht nur technische Tiefe, sondern auch Zugang zu Ressourcen, breiten Branchennetzwerken, was für schnelle Entwicklung und Skalierung entscheidend war. - Klarheit in der Governance von Beginn an
Beschreibung: Unter der Leitung von Rechtswissenschaftlern der Universität Göteborg wurde eine neutrale und unparteiische Innovationsheimat identifiziert: eine Charity-Struktur zur Steuerung von VWT und eine dezentrale autonome Organisation (DAO) zur technischen Entwicklung und als Träger des öffentlichen Guts VWTnet, der digitalen Lösung von VWT. Dies gewährleistet einen inklusiven Ansatz, Transparenz, Neutralität und Langfristigkeit.
Beispiel: Die Schaffung eines transparenten, inklusiven Governance-Modells, verankert in einem gemeinnützigen Ansatz, förderte die Bereitschaft zur Teilnahme und Offenheit beim Datenaustausch.
Schlüsselerkenntnis: Die Etablierung einer neutralen, inklusiven und transparenten Governance-Struktur fördert Vertrauen und zieht eine breite Koalition von Akteuren an. - Orchestrierung kollaborativer Entscheidungsfindung
Beschreibung: Das Projekt setzte auf Gemeinschaft und Einbindung und bindet über 50 Akteure des Ecosystems ein, darunter Verlader, Transporteure (bisher Straße, Schiene und See), Technologie- und Software-Anbieter sowie Terminalbetreiber. Die Initiative baut auf früheren Erfolgen auf. Kollaborative Entscheidungsfindung wurde durch Werkzeuge wie die MetroMap erleichtert, die Akteursrollen und Koordinationspunkte in der Lieferkette visualisiert und ein Mindestmaß an zu teilenden Daten für alle Beteiligten ausweist.
Beispiel: Ein inklusiver Governance-Ansatz, bei dem jede Stimme zählt, sowie eine Mischung aus Community- und Living-Lab-Meetings, ergänzt durch Arbeitssitzungen und Sprints, bieten eine Plattform für kollaborative Entscheidungsfindung und Co-Kreation.
Schlüsselerkenntnis: Strukturierte, transparente Kollaborationsmechanismen wie visuelle Mapping-Tools, eine „Laborstruktur“, partizipative Workshops sind unerlässlich, um eine große, heterogene Gruppe gezielt auszurichten. Sie fördern Vertrauen, klären Rollen und den Innovationsprozess. - Fokussierung auf wirkungsstarke Anwendungsfälle
Beschreibung: Das Konsortium definierte zwei Hauptanwendungsfälle: verbessertes Disruptionsmanagement auf Basis von Transport- und Routeninformationen sowie die Berechnung des CO₂-Fußabdrucks. Diese Anwendungsfälle wurden aufgrund ihrer Branchenrelevanz und ihres transformativen Potenzials ausgewählt und bilden die Grundlage für die Business Cases von VWT.
Beispiel: Die Auswahl dieser Anwendungsfälle erfolgte auf Basis von Feedback der Verlader, die Störungsmanagement und CO₂-Berechnung als ihre dringendsten Herausforderungen und Digitalisierungsbedarfe identifizierten.
Schlüsselerkenntnis: Neben einer inspirierenden großen Vision, hilft die Konzentration auf klar definierte, wirkungsstarke Anwendungsfälle das Momentum aufrechtzuerhalten und frühzeitig Mehrwert zu generieren. Die Abgrenzung muss eine Balance zwischen Ambition und Machbarkeit finden, sodass Pilotprojekte sowohl herausfordernd als auch realisierbar sind. - Co-Design für zukunftssichere Lösungen
Beschreibung: Die Architektur und Infrastruktur für das Teilen von Primärdaten wurden basierend auf der VWT-Vision und dem Feedback der Ecosystemmitglieder gestaltet. Diese Phase konzentrierte sich auf ein föderiertes, sicheres und skalierbares System-of-Systems, bei dem alle Akteure die Kontrolle über ihre Daten behalten.
Beispiel: Die Einbindung aller in die Beschreibung der Lösung vertieft das Verständnis und stellt sicher, dass alle Anforderungen berücksichtigt werden. Das dadurch entstandene Design-Dokument informierte den Prototypenbau.
Schlüsselerkenntnis: Co-Design einer Architektur auf Basis der Inputs aller Stakeholder-Gruppen sorgt für eine robuste, interoperable und skalierbare Lösung. Der Einsatz von Distributed-Ledger-Technologie unterstreicht die Sicherheit und Neutralität der Dateninfrastruktur. - Prototyping mit realen Akteuren
Beschreibung: Basierend auf IOTAs TWIN-Architektur entwickelt VWT den weltweit ersten Prototypen einer föderierten Infrastruktur für Primärdaten-Sharing im Transportsektor. Die Arbeit am Prototypen wird kontinuierlich durch die Zusammenarbeit mit Ecosystempartnern validiert.
Beispiel: VWT ist im Gespräch mit der DCSA (Digital Container Shipping Association) und unterstützt DCSA bei der Verfeinerung ihrer Standards und profitiert im Gegenzug von der DCSA Expertise für eine beschleunigte VWTnet-Einführung.
Schlüsselerkenntnis: Schnelles Prototyping mit realen Akteuren und Daten validiert Annahmen und deckt Integrationsherausforderungen frühzeitig auf. Es stärkt zudem das Vertrauen der Teilnehmer; kontinuierliche Kommunikation über Fortschritte erhöht das Interesse und Engagement aus dem Ecosystem. - MVP-Entwicklung in Live-Umgebungen
Beschreibung: Ein Minimum Viable Product (MVP) wurde erstellt, das die kontinuierliche Überwachung von Testsendungen von Schweden zu globalen Zielen ermöglicht. Die Transporeon hilft bei der Datenerhebung.
Beispiel: Wöchentliche Sprint-Meetings mit führenden Technologieanbietern sichern die Qualität der Ergebnisse und ermöglichen einen systematischen Innovationsansatz.
Schlüsselerkenntnis: Die Entwicklung eines MVP in Live-Umgebungen mit echten Sendungen und Datenflüssen ist entscheidend, um operative Probleme aufzudecken und den praktischen Nutzen zu belegen. Die Partnerschaften mit Transporeon und TWIN zeigen die Vorteile des Ecosystemansatzes und der Nutzung bestehender Lösungen zur Beschleunigung der MVP-Einführung. - Kontinuierliche Verbesserungen halten das Momentum
Beschreibung: Es sind Pläne in Arbeit, einen VWT-Marktplatz für Apps einzurichten, die Primärdaten nutzen und dem Ecosystem neue Wertschöpfungsmöglichkeiten bieten. Weitere Tools wie MicroShare (für kleine Akteure) und eine ShoutOut-Funktion (für umfassende Big-Data-Erfassung) werden entwickelt, um die Datenerfassung zu verbessern.
Beispiel: MicroShare wurde von Roambee für kleine Transporteure konzipiert, damit diese Akteure Sendungsdaten zusteuern und nutzen können, ohne selbst IT-Investitionen tätigen zu müssen. Die ShoutOut-Funktion ermöglicht es VWT, unstrukturierte Daten während Störungen zu sammeln.
Schlüsselerkenntnis: Kontinuierliche Verbesserungen und Fortschritte erhalten das Momentum. Der Aufbau eines Marktplatzes und die Entwicklung von Tools für kleinere Akteure demokratisieren den Zugang und die Beteiligung an VWT und fördern das Wachstum des Ecosystems. Wachstumsstrategien müssen die Eintrittsbarrieren gezielt senken und Innovationen auf der Kerninfrastruktur fördern. - Zukünftige Integration sichert dauerhafte Relevanz
Beschreibung: VWT ist als grundlegende Plattform für eine Vielzahl von Supply-Chain-Anwendungen positioniert und wird unter anderem als potenzielle EU-eFTI (electronic Freight Transport Information) Plattform betrachtet. Sie ist darauf ausgelegt, bestehende Konnektivitätsplattformen wie SGTraDex (Singapur) zu ergänzen und so ihre Rolle als öffentliches Gut und Branchen-Utility zu stärken.
Beispiel: Die Architektur und Governance von VWT wurden EU-eFTI-Arbeitsgruppen und Singapurs SGTraDex vorgestellt, wobei der Fokus auf Interoperabilität und Ausrichtung auf das öffentliche Interesse lag, was die Grundlage für zukünftige regulatorische und branchenspezifische Integration ist.
Schlüsselerkenntnis: Die Positionierung der Initiative als öffentliches Gut und die Ausrichtung an regulatorischen und branchenspezifischen Rahmenbedingungen verstärken Wirkung und Nachhaltigkeit der Initiative. Integrationsplanung stellt sicher, dass die Lösung relevant und anpassungsfähig bleibt, um eine breite Palette von Anwendungen unterstützen zu können.
Bisherige Erfolge
- Aufbau eines globalen, multidisziplinären Konsortiums und Ecosystems mit über 50 branchenrepräsentativen Akteuren
- Entwicklung und Validierung des weltweit ersten dezentralen föderierten Primärdaten-Sharing-Prototyps für globale Transporte unter Nutzung der TWIN-Distributed-Ledger-Lösung
- Ermöglichung der Echtzeitüberwachung internationaler Testsendsungen, was praktischen Nutzen und Skalierbarkeit demonstriert
- Definition eines robusten Governance-Modells mit Fokus auf Neutralität und VWTnet als öffentliches Gut
- Initiierung der Entwicklung eines Marktplatzes und neuer Datenerfassungstools zur Demokratisierung von Zugang und Beteiligung, um ein digitales VWT-Ecosystem zum Nutzen aller Beteiligten zu schaffen
- Kontinuierliche Kommunikation, was die transparente Dokumentation des Fortschritts erleichtert und das Wachstum der Community fördert
- Kofinanzierung durch mehrere nationale Forschungsförderer und in-kind Engagements beteiligter Parteien
Fazit
Die VWT-Initiative steht beispielhaft für einen strukturierten und kollaborativen Ansatz zur Ecosystem-Innovation in der Transportbranche. Transparenz in der Governance und öffentliche Kommunikation durch Artikel und Veranstaltungen schaffen Vertrauen und bringen Wachstum. Durch einen klar definierten und erprobten 10-Phasen-Prozess hat VWT die Grundlage für ein neues Paradigma in der Supply-Chain-Ecosystem-Innovation, im Datenaustausch und in der kollaborativen Entscheidungsfindung gelegt. Die neutrale Governance, technologische Innovation und das Bekenntnis zum gesellschaftlichen Mehrwert positionieren VWT als Modell für zukünftige digitale Entwicklungsprojekte in der globalen Logistik und anderen Branchen.
Autoreninformation
Wolfgang Lehmacher ist ehemaliger Direktor des Weltwirtschaftsforums sowie Präsident und CEO Emeritus von GeoPost Intercontinental. Er ist Mitglied der Think Tanks Logistikweisen und NEXST. Er ist Autor der Bücher „Wie Logistik unser Leben prägt“, Mitautor von „Circular Economy“, „Disrupting Logistics“ und dem „Practical Playbook for Maritime Decarbonisation“ sowie Mitherausgeber von „Maritime Decarbonization“.
Mikael Lind ist der weltweit erste Professor für Maritime Informatics und ist an der Chalmers University sowie den Research Institutes of Sweden (RISE) tätig. Er ist Experte beim Weltwirtschaftsforum, beim Digital Transport Logistic Forum (DTLF) der Europäischen Union und bei UN/CEFACT. Er ist Mitherausgeber der ersten beiden Bücher zu Maritime Informatics, Mitautor des „Practical Playbook for Maritime Decarbonisation“ und Mitherausgeber des Buches „Maritime Decarbonization“.
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