Prof. Dr. Sebastian Herr
Wer die Nachrichten verfolgt, denkt schnell: Wir leben in einer Mangelwirtschaft. Wohnungen fehlen. Straßen sind marode. Und ja – auch Fachkräfte fehlen. Auch wenn sich konjunkturbedingt der Bedarf an Fachkräften (leider) abmildert[1], so besteht doch stetiger Handlungsbedarf in den Personalabteilungen. Aktuelle Studien u.a. Bundesagentur für Arbeit ergeben weiterhin einen Engpass an LKW-Fahrern oder Lagerfachkräften. Doch nicht nur hier fehlt es offensichtlich an Fachkräften, sondern auch bei Managementaufgaben herrscht anscheinend ein Mangel an Fachkräften mit dem sogenannten passenden „skillset“.
Das Wort „Mangel“ ist ohne Zweifel negativ besetzt und Ursachen sind vielschichtig, aber der Mangel ist per se nicht nur schlecht, denn er resultiert aus zwei Richtungen. Erstens es werden Personalressourcen für zusätzliche Marktbedarfe benötigt, dies steht für Geschäftstätigkeit, Wachstum und Entwicklung. Zweitens werden Fähigkeiten benötigt, die bisher im Unternehmen nicht ausreichend ausgeprägt sind. Sowohl „der Markt“ als auch Berufsbilder und die benötigten Fähigkeiten unterliegen einem stetigem Wandel. Vor 50 Jahren wurden Versandleiter im Sammelgutspeditionen benötigt, zwischenzeitlich waren Netzwerkplaner und Prozessmanager ganz oben in den Stellenanzeigen, heute werden Data Analysts und KI-Experten händeringend gesucht. Doch auch hier ist die nächste Welle des Wandels bereits absehbar. 2023 hieß es noch, der Beruf „Prompt Engineer“[2] sei künftig sehr gefragt und biete hervorragende Chancen. Hochschulen richteten ihre Programme entsprechend aus, um der Wirtschaft die passenden Kandidaten/innen bereitzustellen; auch junge Menschen starteten ein Studium oder suchten nach passenden Qualifikationsmöglichkeiten. Mittlerweile – nicht mal 2 Jahre später – ist der Hinweis aus Stellenbeschreibungen praktisch vom Arbeitsmarkt verschwunden. Der technische Fortschritt hat dies weitgehend überflüssig gemacht. Wie das Wall Street Journal[3] berichtet, ist der Begriff Prompt Engineering inzwischen am Ende der Liste neuer KI-Berufe[4] platziert – ein dramatischer Absturz für eine Position, die einst Gehälter von fast 200.000 US-Dollar versprach. Nicht nur die Prioritäten der Unternehmen haben sich geändert, sondern auch die Bedienung der Modelle ist einfacher geworden.
Was heißt das jetzt für junge Menschen, Hochschulen und Unternehmen? Zunächst die erste, simple Antwort: Nicht jedes Modewort hat die Substanz für einen langfristigen Trend oder um es positiv zu formulieren, es werden weiterhin menschliche Visionäre, Trendforscher und HR-Experten/innen gesucht, die genau diesen Substanzgehalt bewerten und Strategien danach ausrichten – ohne Zweifel ein anspruchsvolles Unterfangen. Die zweite Antwort ist etwas komplexer. Wenn der Wandel und Entwicklung von Wirtschaft und Technik so schwer abzuschätzen ist, dann empfiehlt es sich im Zweifel, Kompetenzen und Fähigkeiten auszuprägen, die im wahrsten Sinne belastbarer sind als der neuste Hype des letzten Tech-Festivals. Bei der Suche nach den wirklich wichtigen Kompetenzen ergeben sich zwei Dimensionen – eine „harte“ und eine „softe“.
Die kausalen Logiken der „harten“ Mathematik und der Wirtschaft haben weiterhin Bestand. Entsprechend sind trotz der Wunder der KI weiterhin Basiskomponenten des Rechnens, Kalkulierens und vor allem vermehrt in Zeiten von KI-Halluzinationen des Plausibilisierens gefragt. McKinsey hat gemeinsam mit dem Stifterverband 21 Zukunftskompetenzen definiert. Eine davon: Urteilsvermögen[5]. Hierzu braucht es methodisches Wissen, den Austausch mit Experten/innen und Erfahrung.
Die „softe“ Dimension könnte mit Anpassungs-, Begeisterungs- und Widerstandsfähigkeit umrissen werden. Wenn die Zukunft nicht wirklich vorhersehbar ist und die Geschwindigkeit des Wandels gefühlt immer mehr zunimmt, ist Anpassungsfähigkeit elementar. Dazu gehört die Anpassung nicht als etwas Lästiges oder Unausweichliches zu betrachten, sondern vielmehr mit Begeisterung als eine Chance zu begreifen. Dabei gilt nicht nur sich selbst zu begeistern, sondern vor allem auch Kollegen/innen und Geschäftspartner anzustecken. Jedoch – jeder kennt es aus seinem persönlichem Erfahrungsschatz – stellt sich nach der Phase der Euphorie häufig auch Ernüchterung ein. Dieses „auf und ab“ der Perspektiven ist uns aus der Coronazeit noch vertraut. Diese Anforderungen begegnen Mitarbeitern im Kleinen und Unternehmen im Großen.
Die „harte“ und die „softe“ Dimension bilden das Spektrum für passende Programme an Hochschulen und die Personalentwicklung in Unternehmen. Zugegeben, das (Wirtschafts-)Leben wäre ohne Lücken in der Versorgung oder Verfügbarkeitsengpässe zwar einfacher, gleichzeitig verleitet dieser Zustand zu Stillstand und Bequemlichkeit. Schlussendlich ist der Mangel eben auch ein stetiger Antrieb, effizient oder auch kreativer zu werden. Mangelerscheinungen sind kein Phänomen in schwierigen Zeiten, im Gegenteil „Mangel“ ist vielmehr ein steter Begleiter für Entwicklung und ein Impuls für das Streben nach Veränderung. Dass sich Berufsbilder und Qualifikationsprofile auch im Logistikumfeld entsprechend wandeln und Engpässe entstehen können, ist die logische Konsequenz.
[1] Handelsblatt, 12.08.2025 / DVZ, 17.09.2025
[2] Gemeint ist mit dem Begriff die Erstellung sinnvoller Arbeitsanweisungen für große Sprachmodelle.
[3] „The Hottest AI Job of 2023 Is Already Obsolete“, The Wall Street Journal, 25. April 2025
[4] Work Trend Index Annual Report, Microsoft, 2025
[5] FUTURE SKILLS 2021, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021
Bild: HS Worms/ Florian Schmitt


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