Fachartikel: ARENA2036: Automobilproduktion ohne Band und Takt
Welche Auswirkungen neue Konzepte auf die Produktion und künftige Logistikimmobilien haben.
Seit der Einführung der klassischen Linienfertigung nach Henry Ford wird in der Automobilbranche nahezu unverändert mit Hilfe sequenziell getakteter Fließbänder produziert. Der Vorteil dieses Produktionskonzeptes liegt in der wirtschaftlichen Fertigung mit großen Stückzahlen und weitgehend homogenen Produkten. In der Automobilbranche erleben wir aber in den vergangenen Jahren eine extreme Modelloffensive mit einer Vielzahl zusätzlicher Derivate innerhalb jeder Modellreihe, hinzukommen neue Antriebskonzepte und Werkstoffkombinationen.
Dieser Trend in der Produktindividualisierung führt zu einer nahezu unüberschaubaren Produkt- und Prozessvarianz und damit zu deutlich kleineren Losgrößen. In Kombination mit volatilen Bedarfen muss die Produktion sich immer häufiger anpassen, auf ständig veränderte Produktmixe in der Fertigungslinie reagieren und stetig neue Anläufe bewältigen. Diese Forderung nach Flexibilität und Wandelbarkeit können konventionelle Produktionssysteme mit festem Takt und starren Abläufen nur bedingt erfüllen. Der Wunsch nach alternativen Produktionskonzepten wird größer, so dass diese zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Das ist eines der Themen, das gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Wissenschaft auf dem Stuttgarter Forschungscampus ARENA2036 adressiert wird. Die übergeordneten Ziele sind die Gestaltung von Arbeit, Mobilität und Produktion der Zukunft im Kontext der Digitalisierung.
Im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekts „Fluide Produktion für die Mobilität der Zukunft“ (FluPro) werden innerhalb der ARENA2036 alternative Produktionskonzepte wie beispielsweise die Matrixproduktion oder die Fluide Produktion entwickelt und schrittweise in der Forschungsfabrik umgesetzt. Die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Logistik untersucht das Institut für Fördertechnik und Logistik der Universität Stuttgart und entwickelt Konzepte sowie die dafür notwendigen Komponenten.
Bei der Matrixproduktion erfolgt eine Aufhebung des Taktes und der festen Verkettung von Montagemodulen. Dadurch können die Prozessmodule flexibel nach Bedarf miteinander verkettet werden. Bei der Fluiden Produktion sind die einzelnen Montagemodule zusätzlich ortsflexibel und können sich ad-hoc zu neuen Betriebsmitteln zusammenschließen. Die Fahrzeugherstellung passt sich dabei ähnlich wie ein Fluid, welches seine Form gemäß dem darauf wirkenden äußeren Druck anpasst, auf den jeweiligen Bedarf an. Durch die Fluide Produktion kann insbesondere die Fertigung von verschiedenen Produkttypen und Varianten im selben Montagesystem realisiert werden.
Diese neuen Formen der Produktion werden bereits partiell in den Werken von Lamborghini, Porsche und Mercedes-Benz umgesetzt. Durch eine neu geschaffene Struktur der Produktion bei Lamborghini kann nun jeder Bereich der Produktion flexibel genutzt werden, indem fahrerlose Transportfahrzeuge (FTF) zum Einsatz kommen, welche die Komponenten und Karossen separat an die jeweiligen Montageplätze transportieren. Auch Porsche setzt in der Produktion des Taycan auf FTF und bleibt damit bei einer sich abzeichnenden Stückzahlerhöhung flexibel. Die Factory 56 von Mercedes-Benz umfasst eine einzige neue Montagehalle mit kombinierter Produktions- und Logistikfläche. Produziert werden sollen dort verschiedene Modelle mit unterschiedlichen Antrieben. Auch hier wird verstärkt auf dynamische Strukturen und eine Erweiterbarkeit einzelner Montagebereiche ohne Eingriffe in die Gebäudestruktur unter Nutzung von FTF gesetzt.
In Anbetracht volatiler Märkte sind Flexibilität und Wandelbarkeit Schlüsselmerkmale effizienter Fertigungsprozesse und nicht nur in der Automobilfertigung gefragt. Auch im Maschinen- und Anlagenbaus besteht ein gesteigertes Interesse, eine Neuausrichtung der Produktionsprozesse vorzunehmen, um künftig ein breites und stark ausdifferenziertes Produktspektrum rationeller und effizienter herstellen zu können.
Diese Flexibilität und Wandelbarkeit wirkt sich auch auf die Immobilien aus, in denen solche Produktionen betrieben werden und definieren neue Anforderungen. Der zunehmende Einsatz mobiler Komponenten und deren Vernetzung erfordern eine dafür geeignete Infrastruktur. Für die Ortung und Navigation der mobilen Komponenten wird heute schon auf Funksysteme (zum Beispiel Ultra-Wideband) zurückgegriffen. Sowohl diese Funktionen als auch die Kommunikation unter den Komponenten sollen zukünftig über 5G realisiert werden. Die Verwendung mobiler Komponenten wirkt sich auch auf den Boden der Produktionshalle aus und erfordert ein Umdenken in Bezug auf die Ladeinfrastruktur. So konnte Bosch Rexroth bereits im vergangenen Jahr die Vision des „intelligenten Boden“ präsentieren, der eine kontaktlose Energieübertragung, eine flächendeckende Medienversorgung sowie Elemente zur Navigation beinhaltet. Über diese im Boden integrierten Elemente können flexibel Wege oder Gefahrenbereiche gekennzeichnet werden. Durch ebenfalls integrierte Gewichtssensoren können zudem Personen erkannt werden. Die oben beschriebenen Produktionsformen können einem häufigen Wandel unterliegen. Daher ist es erforderlich, neue Produktionshallen möglichst säulenfrei zu konzipieren.
All das wird sich auch auf die Geschäftsmodelle der beteiligten Akteure auswirken. Durch die Verwendung der mobilen Komponenten und der dadurch erreichten maximalen Flexibilität und Wandelbarkeit können in klassischen Logistikimmobilien im Sinne der verlängerten Werkbank zukünftig noch mehr wertschöpfende Tätigkeiten durchgeführt werden. Die Produktion kann dadurch näher zum Kunden gerückt werden, wodurch unter anderem kürzere Lieferzeiten realisiert werden können.
Die veränderten Marktbedingungen führen zu einem Wandel in der Produktion. Nicht nur im Automobilbau, aber insbesondere dort. Auswirkungen wird dies auf die Logistik haben, die in so dynamischen Produktionsformen wichtiger wird denn je. Berücksichtigung sollte die Entwicklung auch im Bereich der Planung von Logistikimmobilien finden, die zu Erreichung der geforderten Flexibilität und Wandelbarkeit einen großen Beitrag leisten können.
Autoren: Univ.-Prof. Dr.-Ing. Robert Schulz, Institutsleiter, Institut für Fördertechnik und Logistik, Universität Stuttgart, und Dipl.-Ing. David Korte, Forschungskoordination, Institut für Fördertechnik und Logistik, Universität Stuttgart