Kommentar zum Logistik-Indikator für das 2. Quartal 2020 von Prof. Dr.-Ing. Thomas Wimmer, Vorsitzender des Vorstands der BVL
Den Monat März 2020 werden wir nicht so schnell vergessen. Am 9. März erklärte das hart von der Corona-Pandemie betroffene Italien das gesamte Land zur Sperrzone, ab dem 16. März gab es in Europa keinen kontrollfrei durchlässigen Grenzübergang mehr. Ab dem 17. März stellten innerhalb kürzester Zeit die großen Automobilhersteller ihre Produktion ein, andere Industrien folgten. Wenige Tage später dann: Lockdown.
Wo im Februar – noch ohne Corona – leichter Optimismus über die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2020 herrschte, machte sich ab Anfang März Pessimismus breit. Die Covid-19-Maßnahmen trafen auf stagnierende Märkte – und nun waren die Stellhebel der Wirtschaft blockiert. Ich habe mir bis dahin nicht vorstellen können, dass Schengen-Grenzen geschlossen werden und der Logistik-Indikator im Sturzflug auf die Werte der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 fallen würde – sogar noch darunter, wie im April geschehen - auch wenn sich die Stimmung im Monat Mai wieder etwas aufgehellt hat.
Was erwartet uns jetzt und in naher Zukunft? Trotz der herausragenden Performance unseres nicht nur in der Krise systemrelevanten Wirtschaftsbereichs wird es ein schlechtes Logistikjahr 2020 werden. Die Logistikleistungen gehen voraussichtlich um rund fünf Prozent zurück – und im Gefolge werden wir auch Arbeitsplätze verlieren, vorsichtig geschätzt mindestens 50.000. Im Moment überdeckt die Kurzarbeitsregelung den Arbeitsmarkteffekt. Niemand hat bislang wirksam gegensteuern können, denn wir wurden mit einem abrupten mehrmonatigen Systembruch konfrontiert. Trotz punktueller Nachfragesteigerungen überwogen die negativen Effekte, weil die zu bewegenden Volumina kurzfristig zwischen 30 und 50 Prozent und mehr zurückgegangen sind.
Was ist jetzt zu tun? Supply-Chain-Manager und Logistiker aus Industrie und Handel gehen seit einigen Wochen gemeinsam mit ihren Logistikdienstleistern operativ daran, ihre Systeme wieder anlaufen zu lassen – um sie mittelfristig wieder in den Normalmodus zu überführen. Das funktioniert überwiegend geräuschlos. Leider gibt es auch hässliche Effekte: Überkapazitäten im Dienstleistungsangebot ziehen Preiskämpfe nach sich, die in manchen Fällen zu Existenzkämpfen eskalieren. Hier ist viel Augenmaß notwendig.
Strategisch kann die Krise im Nachgang zur Chance gewendet werden. Das Primat der Ressourcen-/Kosteneffizienz muss auf den Prüfstand. Solange die Rahmenbedingungen stimmen, können Wertschöpfungsketten optimal funktionieren. Single-Sourcing kann höchst effizient sein. Multiple Sourcing ist teurer, verteilt aber die Risiken und ist in Krisen widerstandsfähiger. Globaler Teiletourismus ist nicht nachhaltig und beinhaltet Risiken. Robuste, schlanke Lieferketten werden jetzt in den Vordergrund rücken.
Zusätzlich zum „Restart“ ist ein Update für SCM/Logistik angesagt – mit Hinterfragen gewachsener Strukturen und Korrekturen in Geschäftsgebaren. Bei Gütern und Dienstleistungen ist der Nachholbedarf groß, doch ein „weiter so“ darf es nicht geben. Auch darüber wollen wir beim Deutschen Logistik-Kongress vom 21. bis 23. Oktober in Berlin miteinander sprechen. Wie kann die vor uns liegende Dekade, wie kann unsere Zukunft nachhaltig gestaltet werden? Das Programmheft wird in Kürze vorliegen und ein gesundheitsschützendes Veranstaltungsformat ist in Arbeit. Wir freuen uns auf Sie!