Dissertation zum Thema “Logical Time for Decentralized Control of Material Handling Systems”
Artikel von Dr.-Ing. Zäzilia Seibold über ihre Arbeit, ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis Logistik 2016 der BVL
Die vierte industrielle Revolution zielt darauf ab, Produktionssysteme durch Verwendung zahlreicher kleiner elektronischer Bauelemente und Sensoren weiterzuentwickeln. Durch selbstständigen Informationsaustausch und daraus abgeleitete Entscheidungen versprechen diese Systeme mehr Flexibilität und Robustheit. Im Bereich der Fördertechnik hat die Forschung zu modularen, dezentral gesteuerten Systemen geführt. Doch wie sieht die Steuerung eines solchen Systems aus? Wie können sich die einzelnen Elemente koordinieren und synchronisieren? Industrie und Wissenschaft stehen vor der Herausforderung, dass neue Steuerungsprinzipien benötigt werden.
Im Bereich der Materialflusssysteme gibt es einen parallelen Trend hin zu Systemen mit sehr dichten Transportwegen. Ein Beispiel dafür ist der Cognitive Conveyor, an dessen Entwicklung der letztjährige Preisträger des Wissenschaftspreises Tobias Krühn maßgeblich beteiligt war. Aber auch in Shuttle-Systemen, in denen sich Shuttles inzwischen 3-dimensional bewegen, ist diese Entwicklung zu dichten Transportwegen zu beobachten. Das Risiko der sogenannten Deadlocks, also Situationen, in denen sich Ladungsträger endlos gegenseitig blockieren, ist in solchen Systemen unvergleichbar höher.
In den letzten fünf bis zehn Jahren wurden viele dezentrale Steuerungsalgorithmen für modulare, dezentral gesteuerte Systeme entwickelt, die in dieser Arbeit klassifiziert werden. Der erfolgreiche Umgang mit Deadlocks wurde als Herausforderung erkannt. Bisher gibt es keinen allgemein anwendbaren Steuerungsalgorithmus für den Transport von Ladungsträgern, der Deadlocks strukturell verhindert und nicht nur während des Transports vermeidet. Der GridSorter, ein modulares Förder- und Sortiersystem mit gitterartiger Struktur, wurde als Anwendungsbeispiel für diese Arbeit gewählt, da er eine dichte Struktur mit vielen Ladungsträgern aufweist.
In meiner Arbeit wird ein neues Steuerungsprinzip für dezentral gesteuerte Materialflusssysteme vorgestellt: Logische Zeit, ein Prinzip für verteilte Systeme, das parallele Prozesse synchronisiert, wird auf dezentral gesteuerte Materialflusssysteme übertragen. Indem die kontinuierlich voranschreitende, physische Zeit durch logische Uhren ersetzt wird, werden einige Restriktionen der Routenplanung und -durchführung aufgehoben. Die logische Zeit schreitet nur mit erfolgten Transporten voran. Man kann auch sagen, dass die transportierten Ladungsträger die Zeit zu den Fördermodulen bringen. Dadurch sind kausale Relationen zwischen den Transporten nicht mehr zeit-, sondern ereignisgesteuert, wodurch Deadlocks strukturell verhindert werden. Es wird formal bewiesen, dass das System dadurch Deadlock-frei ist. Darüber hinaus führt logische Zeit zu hoher Robustheit gegenüber schwankenden Transportzeiten, die z.B. durch Beschleunigungs- und Bremsvorgänge entstehen.
In dem dezentralen Steuerungsalgorithmus mit logischer Zeit für Materialflusssysteme besitzt jedes Modul einen Reservierungs- und einen Transportmanager. Der Reservierungsprozess kann als Iterative Tiefensuche mit A*-Heuristik beschrieben werden, die von der Gesamtheit der Reservierungsmanager aller Module für mehrere Ladungsträger parallel durchgeführt wird. Zur Reduzierung des Kommunikationsaufwands und für die Skalierbarkeit wurden mehrerer Erweiterungen bei der Routenfindung implementiert wie z.B. die Begrenzung des Suchbaums auf kürzeste Wege oder die Teilstreckenreservierung, bei der Transportprozess schon gestartet wird, während nur ein Teil der Strecke schon reserviert wurde.
Durch dieses innovative Steuerungsprinzip werden zudem weitere Funktionalitäten der sogenannten GridTechnology-Systeme möglich: So können Ladungsträger z.B. auch gepuffert oder sequenziert werden. Dadurch kann der GridSorter an unterschiedlichsten Stellen zum Einsatz kommen. In einem Paketverteilzentrum könnte er genutzt werden, um flächeneffizient Pakete gleichzeitig zu puffern und zu sortieren. In Distributionszentren könnte der GridSorter z.B. auch genutzt werden, um in der Lagervorzone Behälter zu sortieren und sequenziert an Kommissionierstationen zu liefern. Modulare Systeme wie der GridSorter versprechen ein hohes Maß an Flexibilität, da Auf- und Umbau einfach und schnell durchführbar sind und sich die Steuerung automatisch entsprechend des aufgebauten Layouts parametrisiert.
Weiterhin wurde ein Simulationsmodell implementiert, mit dem das Systemverhalten wie Durchsatz, Kommunikationsaufwand und Asynchronität in Abhängigkeit unterschiedlicher Einflussparameter wie Systemgröße, Layoutform und Anzahl der Einschleusungen dargestellt werden konnten. Außerdem wurde der Algorithmus erfolgreich auf einem 5×5-Demonstrator des GridSorters implementiert und getestet.
Insgesamt wurde in meiner Arbeit ein dezentraler Steuerungsalgorithmus mit logischer Zeit für Materialflusssysteme entwickelt, die daraus resultierende Deadlock-Freiheit theoretisch bewiesen und die Systemleistung mithilfe eines Simulationsmodells untersucht. Das Prinzip der logischen Zeit kann auch in anderen logistischen Prozessen zum Umdenken anregen. Es kann überall da von Vorteil sein, wo Ereignisse eigentlich nur kausal voneinander abhängen, aber diese Kausalität zeitlich gesteuert wird.